Denken first, Digital second:
Eine europaweite Petition fordert Wahlfreiheit der Kindergärten und Grundschulen bezüglich der Digitalisierung ihrer Bildungsprozesse
Till Reckert
Die frühe Digitalisierung der Medienpädagogik ab den Kindertagesstätten ist ein Ziel europäischer, nationaler und föderaler Bildungspolitik. Eine europaweite Petition von „ELIANT“ (www.eliant.eu) und dem „Bündnis für humane Bildung“ (www.aufwach(s)en.de) läuft bis Ende 2020. Sie fordert von den Bildungsverantwortlichen, dass in Bildungsplänen und Förderrichtlinien bildschirmfreie Kindergärten und Grundschulen eine gleichberechtigte Alternative bleiben, die Eltern und Pädagogen für ihre Kinder wählen können. Warum sollten wir als Pädiater diese Petition unterstützen?
Die digitale Revolution hat erst begonnen
Spricht nicht alles dagegen? Die digitale Revolution hat gerade erst begonnen. Unsere Kinder werden in einer Gesellschaft leben, die noch stärker mit Hilfe rasend schnell maschinell verarbeiteter, digitaler Algorithmen organisiert sein wird. Die Maschinen des 19. Jahrhunderts werden durch die Digitalisierung zu immer menschenähnlicheren Robotern, die Medienwelten des 20. Jahrhunderts (Telefon, Radio, Schallplatte, Fotografie, Film) aber auch ältere Schriftmedien verschmelzen zur multimedialen Welt des allumspannenden, zeit- und raumlosen Internet, in dem Informationen und Unterhaltung im Übermaß billigst vorhanden sind und oft „nur“ noch mit menschlicher Aufmerksamkeit und persönlichen Daten bezahlt werden.(1) Da Kinder immer das lernen, was sie tun, scheint es bildungspolitisch naheliegend, schon ab dem frühen Kindesalter eine „Digitalisierung der Bildung“ voranzutreiben um zukünftige „digitale Kompetenzen“ oder „Medienkompetenz“ sicherzustellen. Man fordert dies daher politisch auf europäischer (2), nationaler (3), und auf der Länderebene.(4)
DigitalPakt Schule
Dies führte in Deutschland zum „DigitalPakt Schule“ (www.digitalpaktschule.de): 5Mrd€ Sondermittel des Bundes sollen bei 550Mio€ Eigenanteil der zuständigen föderalen Strukturen bis 2024 bereitstellt werden: Dieses Geld kann zweckgebunden für die digitale Bildungsinfrastruktur aller Schulen, aber auch für übergeordnete Projekte wie Schulclouds und Bildungsserver etc. ausgegeben werden. Das sind durchschnittlich 500€ pro Schüler in 5 Jahren. Eine dauerhafte Finanzierung des Bundes für schulische Infrastruktur und ihre Wartung ist nicht vorgesehen. Der Wettlauf um diese Fördermittel hat mit der Unterzeichnung der Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund und Ländern am 16.5.2019 begonnen: Engagierte Pädagogen erstellen die vorausgesetzten Medienentwicklungspläne entsprechend der Förderbekanntmachungen der Länder („keine Förderung ohne Konzept“). Sie werden dabei gerne von IT-Firmen unterstützt, die dann in Public-Private-Partnerships ihre Produkte und Dienstleistungen verkaufen. Länder und Schulträger qualifizieren die Lehrkräfte, damit auch ein Bildungsmehrwert entstehen kann. Medienpädagogische Lehrstühle, Institute, Stiftungen und Vereine etc. helfen dabei.
Bildungsmehrwert durch Digitalisierung der Grundschulen?
Bisher ein war ein wirklicher Bildungsmehrwert durch ein Mehr an Digitaltechnik im Unterricht nur selten praktisch so erreichbar, wie man es sich theoretisch erhofft hatte. Oft verschlechterten sich klassische Lernleistungen wenn man Schulen digital aufrüstete. (5) Rückblickend sahen die Verantwortlichen dann das Problem zumeist nicht bei der Digitaltechnik selber, sondern bei den schlechten oder nicht vorhandenen pädagogischen Konzepten ihres Einsatzes. So hat auch die Kultusministerkonferenz in ihrem Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ (4) ein „Primat des Pädagogischen“ gefordert: Es handele sich bei dem Einsatz digitaler Medien nie um einen Selbstzweck. Der Einsatz müsse vielmehr dem Bildungs- und Erziehungsauftrag folgen.
In der empirischen Bildungsforschung stellt die Hattie-Studie „Visible Learning“ derzeit das weltweit umfassendste pädagogische Forschungsprogramm dar. Alle existierenden ca. 1.400 Metaanalysen (über 80.000 Einzelstudien mit 250 Mio Lernenden) wurden hier zusammengefasst um herauszuarbeiten, welche Faktoren im Lernprozess welche Effektstärken auf die Lernleistung haben. Hierbei zeigt sich: Fast alles, was in Erziehung und Unterricht passiert, verbesserte in Studien die Lernleistung. Nur 5% aller erfassten Einflüsse wirkten sich negativ auf die Lernleistung aus. Die Hitliste hierbei ist: Kindliche Depression (-0,35), Smartphones (-0.32), Schlafstörungen (-0,28), Soziale Medien (- 0,14).(6) Der Durschnitt aller erhobenen Effektstärken liegt also nicht bei 0 sondern bei +0,4. Investieren sollte man daher vor allem in Bereiche, die größere positive Effekte als +0,4 erwarten lassen.
Zeigt die Forschung wirklich, dass sich Bildungsprobleme vor allem mit Milliardeninvestitionen in die Digitalisierung maßgeblich verbessern lassen? Leider nein. Effekte sind zwar vorhanden aber eher gering. In aufsteigender Reihenfolge zeigen sich beispielsweise folgende Effektstärken: Laptop-Einzelnutzung (0,16), Digitalisierung in den Naturwissenschaften (0,22) und in der Mathematik (0,33), Power-Point (0,26), Online- Lernen (0,29), Flipped Classroom (0,29), Einsatz von Smartphones im Unterricht (0,37). In der Summe hat die Digitalisierung der Pädagogik eine Effektstärke von 0,33, bleibt also unterdurchschnittlich. Eine Ausnahme sind deutliche Effekte digitaler Technik bei spezifischem Förderbedarf (insgesamt 0,57, z.B. bei unterstützter Kommunikation).(6) Etwas provokant im Bild gesprochen: Für Gehbehinderte verbessert ein „Elektrorollstuhl“ entscheidend die Teilhabe an den Bildungszielen. „Elektrorollstühle für alle“ verbessern deswegen aber noch nicht maßgeblich die Mobilität im Allgemeinen, obwohl auch Gesunde damit bequemer in die Klasse kommen könnten, wenn erst die ganze Schule rollstuhlgerecht wäre. Stärkere Effekte als Digitaltechnik auf die Lernleistung der Schüler haben normale menschliche Kompetenzen im Unterricht, also der Einfluss des Lehrers selber. Der Einfluss des Lehrers sollte mit Digitaltechnik also zumindest nicht behindert werden.
Man muss nun die Ursachen für die Effektstärken digitaler Werkzeuge im Einzelnen analysieren, um zu verstehen, aus welchen Faktoren sie sich zusammensetzen und ob es auch negative Wirkungen gibt. Beispielsweise unterstützen Mitschriebe das Lernen besser, wenn sie mit Stift und Papier erfolgen als mit Tablet oder Laptop.(7) Ein neues Gebiet eignet man sich zusammenhängend effektiver aus einem gedruckten Lehrbuch an als aus einem e-Book.(8) Die Möglichkeit, alles zu „googeln“ verschlechtert die Motivation, sich Dinge zu merken und damit auch Gedächtnis und Allgemeinbildung.(9) Ein Smartphone verringert die Konzentration und Lernleistung sogar dann, wenn es ausgeschaltet ist. Und zwar umso mehr, je größer der Stellenwert ist, den es im Leben seines Besitzers einnimmt und je sichtbarer es präsent ist.(10) Daher führte ein Smartphoneverbot an Londoner Schulen regelmäßig zu verbesserten Lernleistungen insbesondere der unterprivilegierten Schüler.(11) Grundsätzlich kann man beobachten, dass Technik das Outcome weniger verbessert als althergebrachte analoge Lehrmethoden, wenn sie aus Bequemlichkeitsgründen oder um ihrer selbst willen eingesetzt wird.(6) Dies gilt umso mehr, je jünger und je weniger lebenserfahren die Kinder sind.
Ausgaben für die Digitalisierung der Bildung priorisieren
Die deutsche Gesellschaft investiert vergleichsweise viel in Bildung und Betreuung ihrer Kinder- und Jugendlichen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt bleibt man aber hierzulande mit einem Anteil von 3% hinter dem OECD-Durchschnitt von 3,5% zurück.(12) Dies macht sich bemerkbar. 5,55Mrd€ im Rahmen des Digitalpaktes scheint viel Geld zu sein, das dringend gebraucht wird. Eine für die Lehrergewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) erstellte Studie schätzt jedoch, dass es nur für die Berufsschulen reiche und dass eigentlich 21Mrd.€ nötig wären, um die Infrastruktur aller Schulen in dem gewünschten Maße zu digitalisieren. Sie fordert daher eine Verstetigung des Digitalpaktes.( 13) Auch eine Studie der Bertelsmann-Stiftung schätzte den Finanzbedarf schon 2017 höher ein, nämlich auf kontinuierlich 2,8Mrd€ jährlich nur für allgemeinbildende Schulen.(14) Denn es wird laufend beträchtlich Geld und Zeit für Unterhalt und Erneuerung der Digitaltechnik aus dem Bildungsetat zur IT-Industrie abwandern und hier neue Abhängigkeiten schaffen. Während die Kreidetafel selten erneuert und gewartet werden musste, wird dies bei der neu angeschafften interaktiven Whiteboardtechnik anders sein. Sich auch darum zu kümmern, wird dann als neue Aufgabe für die zumeist kommunalen Schulträger hinzukommen. Diese Aufgabe wird Ressourcen aus evt. wichtigeren Bereichen abziehen. Es wird geschätzt, dass pro Schüler*in 180€ jährlich nur für den IT-Support an Schulen anfallen.(13)
Die in Aussicht gestellten Anschubfinanzierungen durch den Digitalpakt sind also gemessen am eigentlichen Bedarf mit 5Mrd.€ sehr begrenzt. Sie sollten daher vor allem dort erfolgen, wo sie besonders nötig gebraucht werden. Und das sind nach Meinung vieler Pädagogen nicht die Grundschulen. Denn hier müssen noch Vorläuferfähigkeiten für eine nachhaltige Medienmündigkeit (15) in der digitalen Welt gelernt werden: Um gut im Internet zurecht zu kommen, braucht man neben (recht rasch gelernten) technischen Kompetenzen und Lese- und Schreibfähigkeiten vor allem Medialitätsbewusstsein, Empathie, Allgemeinbildung, selbstständiges Denken, eigene Fragen, Interesse, Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer und Selbstdisziplin. Viele dieser Fähigkeiten bildet man mit digitalen Bildschirmmedien schlechter aus als im analogen Leben wobei die mit Bildschirmen verbrachte Zeit für Erfahrungen im analogen Leben fehlt.(1) Daher fordert die Petition eine Wahlfreiheit der Eltern und praktischen Pädagogen der Kindergärten und Grundschulen vor Ort, ob und wie sie ihre pädagogischen Prozesse mit digitalen Hilfsmitteln umgestalten wollen. Sie fordert für Schulen, die sich für analoge Wege entscheiden, eine strukturelle Gleichberechtigung in den Lehrplänen und in den Förderungen.
Steve-Jobs-Schulen in Holland
In Holland ist diese methodische Wahlfreiheit viel stärker als bei uns gegeben. Die Förderung erfolgt pro Schüler unabhängig vom pädagogischen Konzept der Schule. Die Schüler müssen nach der Grundschulzeit in Tests zeigen, dass sie genug gelernt haben. Fallen sie durch schlechte Leistungen auf, prüft die Schulbehörde, warum dies so ist. Und Eltern melden ihre Kinder eher an besser bewerteten Schulen an. So erging es den 2013 gegründeten „Steve-Jobs-Schulen“. In ihnen sollten die Kinder selbstbestimmt an eigenen iPads mit einer Schulsoftware lernen dürfen, die Lehrer hatten mehr eine Lernbegleiterrolle. Alles war in vielen Aspekten so gestaltet, wie es z.B. einflussreichen bildungspolitischen Meinungsbildnern der Bertelsmann-Stiftung visionär vorschwebt.(16) Anfangs wurden die Steve-Jobs-Schulen von deutschen Medienpädagogen als mutiges Vorbild für das noch zu digitalisierende deutsche Bildungswesen gefeiert.(17) Fünf Jahre später waren sie als Konzept gescheitert und pleite. Derartiges Scheitern digitaler Schulprojekte ist kein Einzelfall.(18) Und nur nebenbei bemerkt: Der Apple Gründer Steve Jobs hätte seine eigenen Kinder in deren ABC-Schützen-Zeit nicht mit iPads ausgestattet und daher für sie auch keine Steve-Jobs-Schule nach holländischem Vorbild gewählt.( 19) Und auch andere heutige IT-Größen im Silicon Valley geben viel Schulgeld für ihre Kinder aus, um ihnen ein technikarmes pädagogisches Umfeld zu ermöglichen.(20) Das sollte zu denken geben.
Literatur:
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