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Europäische Allianz von Initiativen
angewandter Anthroposophie

Positionspapier zu digitalen Medien in Kindheit und Schule

Weltweit ist heute der Zugang zur Schulbildung mehr Kindern möglich denn je, was sich auch in der Alphabetisierungsrate zeigt. Dies allein ist noch kein Erfolgsgarant. Damit die Kinder im späteren Leben in der Lage sind, unabhängige fundierte Entscheidungen zu treffen, müssen sie auch lernen, vorurteilsfrei zu denken.

ELIANT hat sich zum Ziel gesetzt, die Vielfalt der Wahlmöglichkeiten in frühkindlicher Erziehung und Pflege sowie in Grund- und weiterführenden Schulen zu erhalten. Lehrer, Erzieher und Eltern sollen gemeinsam und 1 möglichst frei ein Lernumfeld gestalten, pädagogische Methoden wählen und einen individuellen Weg zur Heranführung an digitale Medien finden, die dem Entwicklungsstand der Kinder entsprechen.

Die Vision der Allianz wird gestützt von der wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Studien aus den Disziplinen Neurologie, Psychologie und Verhaltensforschung, die sich mit der Frage befassen, welche Schritte für eine gesunde menschliche Entwicklung von frühester Kindheit an erforderlich sind. Für die bestmögliche soziale, emotionale und geistige Gesundheit ist es unabdingbar, diese inskünftig in alle Bildungskonzepte aufzunehmen. Mit ihrer Petition zum bildschirmfreien Unterricht bittet ELIANT die EU-Bürger um Unterstützung. Sie läuft bis Herbst 2020.

Frühe Medienpädagogik

Die frühkindlichen Erlebnisse und Erfahrungen sind entscheidend für die weitere Entwicklung eines jeden Einzelnen. Der technologische Fortschritt dringt schnell in alle Lebensbereiche ein. Besonders besorgniserregend ist der Einsatz digitaler Geräte in der frühen Kindheit. Unabhängige Forschungen zeigen die Auswirkungen der frühen Nutzung und hinterfragen deren empfohlene Verwendung in der Schule. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine den altersspezifischen Entwicklungsbedürfnissen angemessene Bildschirmzeit festlegt und empfiehlt, bis zum zweiten Lebensjahr darauf zu verzichten.

Ausreifung des Gehirns

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist in den ersten Lebensjahren am intensivsten. Viel hängt im späteren Leben von diesen frühen Erfahrungen ab. In der frühen Kindheit benötigt das sich entwickelnde Gehirn viele verschiedene körperliche Aktivitäten in natürlicher (analoger) Umgebung mit Einbezug aller menschlichen Sinne. Durch körperliche Aktivität kann das Gehirn seine Führungs-, Kontroll- und Informationsverarbeitungskapazitäten üben. So lernt das Kind, sein Gehirn zu nutzen und durch die Aktivierung seiner motorischen Funktionen und seiner Sinnesorgane die Umgebung zu erkunden. Dieses physische Erkunden in den ersten Lebensjahren ermöglicht, dass das Kind Konzepte von Raum und Zeit entwickeln kann. Die Beherrschung der Bewegungsabläufe wird durch ständige Wiederholungen erlernt, wobei das Gehirn gedankliche Konzepte mit körperlichen Bewegungen verknüpft.

Damit das Vorderhirn (der Sitz unserer Kontrollfunktionen) vollständig ausreift, sind echte menschliche Interaktionen unerlässlich. Das Vorderhirn steuert die Entwicklung der Gedächtnisfunktion sowie des rationellen Denkens und Handelns. Seine Grundstruktur entwickelt sich in den ersten Lebensjahren durch Nachahmung, Erfahrung und Reflektion.

Die Empfindlichkeit der Neuronen im Gehirn eines kleinen Kindes ermöglicht es ihm, Eindrücke intensiver aufzunehmen als ein Erwachsener. Nicht jeder Eindruck, jeder Reiz ist positiv zu bewerten . Neueste Studien zeigen, dass sich eine neuronale Überaktivierung negativ auf die Ausreifung des Vorderhirns auswirken kann. Die Nutzung digitaler Medien mit ihren dynamischen Bildschirminteraktionen fördert nachweislich eine intensive Aktivierung des neuronalen Belohnungssystems im Gehirn. Die übermäßige Nutzung dieser Geräte in einer frühen Phase der zerebralen Entwicklung kann eine Störung des Gleichgewichts von Selbststeuerung und Belohnungssuche zur Folge haben, welche die Entwicklung einer Mediensucht deutlich erhöht.

Kognitive Fähigkeiten

Die menschliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung komplexer kognitiver Fähigkeiten wie Sprechen, Zuhören, Lesen und Schreiben. Der Einsatz digitaler Medien zur Förderung des Erwerbs dieser Fähigkeiten hat sich weitgehend als ineffektiv erwiesen und wurde in einigen Fällen sogar mit verzögertem Spracherwerb in Verbindung gebracht. Laut Ergebnissen der PISA Studie hat der Einsatz digitaler Medien keinerlei positive Wirkung auf das Lernergebnis. Die kognitiven Fähigkeiten hängen weitgehend von der gesunden Entwicklung des Gehirns und der sozial-emotionalen Intelligenz des Kindes ab.

Sozio-emotionale Intelligenz

Soziale Fähigkeiten bei Kindern entwickeln sich früh durch verbale und nonverbale Kommunikation mit Eltern, Erziehern und Lehrern. Zu lernen, Gefühle zu erkennen und darauf zu reagieren ist die Basis für die Fähigkeit, tragfähige Beziehungen mit anderen Menschen aufzubauen. Die Entwicklungspsychologie weist auf die Bedeutung von serve-and-return hin. Diese beschreiben, wie das Kind die Reaktionen der Eltern auf das eigene Verhalten beobachtet und daraus lernt. Der Begriff Technoference wiederum beschreibt die alltäglichen Unterbrechungen der direkten menschlichen Kommunikation durch die Nutzung digitaler Geräte. Die starke Nutzung dieser Geräte in unserem Alltag beeinträchtigt die persönlichen Beziehungen und häufig auch das Lernumfeld kleiner Kinder. Studien zeigen: Je weniger kleine Kinder digitale Technologie benutzen, desto besser können sie verschiedene menschliche Emotionen lesen und verstehen.

Verhalten

Die jüngste unabhängige Forschung auf dem Gebiet der Verhaltenspsychologie macht auf das Problem der sofortigen Bedürfnisbefriedigung - auch instant gratification genannt - bei kleinen Kindern aufmerksam, die mit der Verwendung von digitalen Geräten zusammenhängt. Kinder lernen, Emotionen zu steuern und zu kontrollieren, indem sie sich an Aktivitäten beteiligen, sich Ziele setzen und sie Schritt für Schritt erreichen. Heutzutage ist der Zugang zu digitaler Unterhaltung jederzeit möglich – sofortige Bedürfnisbefriedigung ist gewährleistet. Kinder müssen sich für eine Belohnung nicht mehr anstrengen, was das Erlernen von Fähigkeiten wie Geduld, Entschlossenheit und Selbstkontrolle stark beeinträchtigt. Kinder erleben immer seltener Situationen, in denen sie auf eine Belohnung warten müssen. Bewältigungsstrategien, auch Coping-Strategien genannt, können sich nur unzureichend entwickeln, weil durch die Erfahrungen in der digitalen Welt die Erwartungshaltung geschaffen wird, dass jedes Bedürfnis und jeder Wunsch sofort erfüllt werden muss. Wird diese Erwartung enttäuscht, reagieren die Kinder mit heftigen Gefühlsausbrüche, Frust, Trauer und Wut. Darunter leiden sowohl Kinder wie Eltern, und ihre Beziehung nimmt Schaden.

Schlussfolgerung

Echte menschliche Kommunikation und körperliche Aktivitäten im Freien können niemals durch digitale Geräte ersetzt werden, mögen die Apps und Geräte noch so raffiniert sein. Um sich gesund zu entwickeln und seine körperlichen, kognitiven und sozio-emotionalen Fähigkeiten zur Reife zu bringen, braucht jedes Kind verlässliche zwischenmenschliche Interaktionen. Wie der gesunde Entwicklungsprozess in der Bildung gestaltet werden kann, dazu möchte die Allianz ELIANT eine breite, evidenzbasierte, interdisziplinäre Forschung anregen.
Diese Forschungsergebnisse dienten der Gesetzgebung und den Eltern als Informationsquelle und unterstützten sie dabei, eine altersgemäße und individuell auf die Entwicklung der Kinder abgestimmte Medienerziehung zu wählen. Dies kann am besten erreicht werden, wenn folgende Kriterien erfüllt sind:

  1. Weiterentwicklung eines unabhängigen, interdisziplinären Forschungsprogramms und einer Längsschnittstudie über die Auswirkungen dieser Technologien auf die gesunde Entwicklung der Kinder sowie zur Rolle, welche die Bildung hat, um die bestmöglichen Bedingungen für eine gesunde Entwicklung zu schaffen.
  2. Aufbauen einer EU-weiten Sensibilisierungskampagne die Eltern, Schulen und Lehrer über die Auswirkungen der Bildschirmtechnologie auf die sozioemotionale Entwicklung sowie die Gehirnentwicklung der Kinder informiert.
  3. Sicherstellung der Wahlfreiheit für Eltern, Lehrer und Betreuer zwischen verschiedenen pädagogischen Ansätzen. Diese müssen frei zugänglich und erschwinglich sein. Vorausgesetzt dass am Ende der Schulzeit die Lernziele erreicht werden, muss eine bildschirmfreie Bildung zumindest im Kindergarten- und Grundschulalter möglich sein.
  4. Einrichten eines ständigen Dialogs zwischen den Interessengruppen - einschließlich zivilgesellschaftlicher Organisationen, Eltern und Lehrern -, um geeignete Strategien zu erarbeiten und umzusetzen.
  5. Entwicklung von Bildungsstrategien und -zielen, die den Schutz der menschlichen Gesundheit gewährleisten und mögliche Gesundheitsrisiken für jedes Kind ausschliessen. Die Vermeidung jeglichen Risikos ist Teil des Vorsorgeprinzips, wie in Artikel 191 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union festgehalten.

Mai 2019

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Positionspapier


Gesund aufwachsen in der digitalen Medienwelt, ISBN 978-3-9820585-0-4

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